
Ess-Störungen und Diabetes Typ 1 – eine mitunter sehr gefährliche Kombination. Junge Mädchen spielen dabei mit ihrem Leben. Und wofür? Um schlank zu sein, und dass um jeden Preis. Einem zu hohen Preis, wie ich finde.
„Diabulimie“ ist da wohl das Schlagwort in letzter Zeit. Immer häufiger lese ich Berichte von jungen Mädchen (wie von Jasmin), die sich genau für diesen Weg entschieden haben. Junge Mädchen die hohe Blutzuckerwerte, Folgeschäden in Kauf nehmen, nur um Dünn zu sein. Als Mutter einer Tochter mit Diabetes Typ 1 bin ich sehr betroffen von diesen vielen, sehr persönlichen Geschichten. Und ehrlich gesagt, habe ich auch ein wenig Angst, meine Tochter könnte irgendwann genau in diesen Strudel geraten.
Jasmin: „Es kam schleichend und eher etwas unbewusst …“
So wie bei Jasmin vor einigen Jahren. Jasmin ist jetzt 20 und bekam im Alter von 13 Jahre (05/2008) die Diagnose Diabetes Typ 1. Ihre Ess-Störung kam schleichend und eher etwas unbewusst. Jasmin erzählt mir, dass sie vor der Diagnose ziemlich viel gewogen hat, so an die 90 Kilos. Vor ihre Manifestation hat sie dann knapp 15 Kilo abgenommen, einfach so. Doch während der Einstellung im Krankenhaus hat sie diese Kilos schnell wieder zugenommen. „Das hat mich zu diesem Zeitpunkt, mit 13 Jahren, nicht wirklich gestört,“ so Jasmin. Eine ganze Weile lief alles Bestens. Die Blutzuckereinstellung war in Ordnung, der Hb1Ac-Wert lag im „grünen“ Bereich, doch dann kam diese „Null-Bock auf Diabetes Phase“. (Hilfe bei Null-Bock-Phasen)
Keine Lust auf Diabetes, keine Lust aufs „dick“ sein
Jasmin erzählt weiter, sie war damals noch in der Kinderklinik und musste alle drei Monate gemeinsam mit ihrer Mutter zur Routinekontrolle. „Anfangs, war auch alles OK. Doch irgendwann ist mein Langzeitwert immer mehr gestiegen. Und ich musste dann alle drei Monate stationär zur Neueinstellung in der Klinik bleiben. Ich hatte bald gar keinen Bock mehr auf das Blutzucker messen, Insulin spritzen.“ Jasmin berichtet mir weiter, dass es bei ihr ziemlich lange ohne Messen und Spritzen „gut“ gegangen ist, ohne das ihr Körper irgendwelche schwerwiegenden Anzeichen zeigte. Bis zu dem Tag (sie war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt) an dem sie nachts mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme gekommen ist. „Ich bekam keine Luft mehr“, so Jasmin weiter. Im Krankenhaus hat sie dann ein paar Tage nur geschlafen und war vollkommen weggetreten. „Danach war ich leider körperlich sehr schwach und ich konnte nicht mal mehr aufstehen. Dazu kamen dann auch noch Wassereinlagerungen in den Beinen. Das war für mich so schlimm dass ich gesagt habe o. k. Jasmin du musst etwas ändern.
Änderung, jedoch nicht unbedingt zum Besseren
„Als ich wieder zu Hause war, habe ich fast keine Kohlenhydrate mehr gegessen und sehr viel Sport gemacht. Ich war Joggen, Radfahren und habe jede freie Minuten auf dem Stepper verbracht bis ich ganz abgemagert war. Ich wog nur noch so um die 48 Kilo.“ Ich habe wieder angefangen normal zu essen und der Teufelskreis begann von neuem. Ich habe für meine Mahlzeiten wieder kein Insulin mehr gespritzt. Es war sehr schwer für mich, und nur mit sehr viel Willenskraft habe ich es damals geschafft wieder heraus zu kommen. Doch leider habe ich auch heute immer wieder mal Phasen in denen genau dieses Problem wieder zurückkommt. Die Angst Dick zu sein ist einfach zu groß und das Insulin wegzulassen ist einfach zu verlockend. Ich bekomme es zwar mit viel Willenskraft und Nervenstärke immer wieder hin, aber trotzdem falle ich immer wieder in dieses Verhaltensmuster zurück. Mittlerweile bin ich soweit und weiß, dass ich etwas an meinem Verhalten ändern muss. Für mich.“ Jasmin ist zwar bereit für psychologische Unterstützung, doch um ihr Problem in einer Klinik stationär behandeln zu lassen, soweit fühlt sie sich noch nicht. „Meine Angst vor dem Zunehmen ist einfach noch zu groß“.
Auslöser war und ist wohl, dass ich vor der Diagnose Dick war
Jasmin weiß, dass sie ihre Essstörung noch lange nicht überwunden hat. Die Angst wieder dick zu werden ist einfach zu groß. Solange diese Angst in ihr vorherrscht, solange ist es schwer für sie diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Jasmin erklärt mir „Da reicht oft nur ein kleiner Auslöser. Wie beispielsweise eine Tafel Schokolade. Du willst sie nicht essen, doch dann überkommt es dich und du isst gleich die ganze Tafel auf einmal auf. Ich spritze dann einfach kein Insulin. Und auf einmal ist alles wieder wie vorher. Egal wie viel Mühe ich mir gegeben habe, dann fängt alles wieder von vorne an.“
Im Verborgenen, die Ess-Störung verstecken
Jasmin hat ihre Ess-Störung lange vor ihrer Familie und ihren Freunden geheim gehalten. „Naja, alle Essgestörten haben ja so ihre Tricks“, so Jasmin weiter. „Wenn ich mal wieder übermäßig viel gegessen habe, habe ich einfach behauptet ich hätte Unterzucker oder sei im Wachstum und habe einfach Hunger. Und dann gibt es da noch die Hungerphasen. Da isst man dann auch schon mal Watte, die man in den Tee gibt, um den Magen ohne Kalorien zu stopfen. Oder nur ein Stück Gurke. Aber die extreme Angst auch davon wieder zuzunehmen, bringt mich dann zum Erbrechen. Durch das häufige Erbrechen sind meine Zähne ziemlich abgebrochen und dass finde ich jetzt auch nicht mehr sehr schön. Um es vor meiner Mutter zu verbergen, habe ich mein Blutzucker-Messgerät manipuliert. Habe Datum und Uhrzeit verstellt, habe meine Freunde messen lassen oder habe mit Spucke mein Blut so verdünnt, dass es niedrigere Werte angezeigt hat.“
Jasmin berichtet mir weiter, „dieses geheim halten ging eigentlich ziemlich lange gut. Aber meine Mutter ist Krankenschwester und merkt einfach wenn ich nach Aceton rieche, wenn meine Augen glasig werden und meine Haut schlecht aussieht. Wenn ich dann sehr laut atme oder nur noch am Schlafen bin, weiß meine Mutter, dass ich wieder mal entgleist bin.“
Unterstützung durch Freunde und Familie
Besonders wichtig in Jasmins Situation ist, dass sie trotz der vielen Rückschläge auf den Halt und die Unterstützung ihrer Familie und Freunde zählen kann. „Also meine richtigen Freunde sind im Moment sehr für mich da. Aber auch meine Mama, mein Papa und meine kleine Schwester stehen immer hinter mir. Und das obwohl ich in den letzten Jahren sehr viel Mist gebaut habe. Dafür bin ich sehr dankbar“, so Jasmin.
10 Warnsignale – darauf sollten wir Eltern bei unseren Kindern achten
- täglich mehrere Stunden Sport
- sich auffällig viel mit Essen und Kohlenhydrate beschäftigen (verändertes Essverhalten)
- starker Gewichtsverlust
- Müdigkeit
- Gereizte Stellen am Handrücken
- Wesensveränderung, Lustlosigkeit
- Nach dem Essen erstmal ins Bad verschwinden
- Verwendung von Abführmittel, Fett Burner, etc.
- Starker Acetongeruch
- Sehr hohe Hba1C Werte
Jasmin hat sich auch sehr zurückgezogen, hatte keine Lust mehr raus zu gehen oder mich einfach mit Freunden Treffen. Jasmin hat ihr ganzes Wohlbefinden vom Spiegelbild und der Waage am Morgen abhängig gemacht. „Ist das Spiegelbild morgens so wie man es will, ist es ein guter Tag. Ist irgendwo auch nur ein Gramm zu viel, ist der ganze Tag im Eimer und man möchte nicht vor die Türe gehen.“
(Mehr zum Thema Ess-Störungen bei Kinder und Jugendliche mit Diabetes Typ 1 erkennen)
Ratschlag für uns Eltern
Wenn wir Eltern diese oder ähnliche Anzeichen bei unseren Kindern bemerken ist guter Rat teuer. Wie sollen wir uns verhalten? Geradewegs drauf ansprechen? Oder doch eher so durch die Hintertür? Für mich wäre das ein sehr großes Problem.
Jasmin rät mir, bei einem Verdacht behutsam das Gespräch mit dem Kind zu suchen. Es vorsichtig darauf anzusprechen. Zu sagen, Du etwas kommt mir in letzter Zeit seltsam vor. Wir sollten unseren Kindern auch immer gleich zeigen, dass wir um sie besorgt sind. Das wir Ihnen keine Vorwürfe machen, sondern ihnen helfen wollen. Das wir immer für sie da sind, egal was ist. Ich hoffe inständig ich komme nie in diese Situation.
Die Kombination Diabetes und Essstörung ein ewiger Teufelskreis
Jasmin beschreibt es zum Abschluss nochmal ganz gut. „Jede Krankheit hat was schlimmes, aber die Kombination von Diabetes Typ 1 und einer Essstörung ist ein wahrer Teufelskreis, der nur sehr schwer zu durchbrechen ist. Ist mit dem Diabetes alles ok, habe ich Probleme mit dem Essen und ist mein Essverhalten ok, habe ich Probleme mit meinem Diabetes. Ich kämpfe mittlerweile an die 6 Jahre damit und vieles in meinem Leben scheitert häufig genau an diesem Problem. Egal ob Ausbildung, eine neue Wohnung, Beziehungen oder Freundschaften. Alles steht und fällt mit meiner Ess-Störung. Ich habe Angst, dass meine Familie irgendwann auch nicht mehr mitmacht. Ich die Personen verliere, die ich am meisten brauche. Ich möchte sie auch nicht enttäuschen, aber ich kann nicht anders. Es ist irgendwie festgefahren in meinem Kopf. Ich weiß, dass ich es auch nur alleine, aus eigener Kraft in den Griff bekommen kann. Es ist sehr schwer für mich, aber ich möchte es wirklich versuchen. “
Den ersten Schritt in die richtige Richtung hat Jasmin aber schon getan. Sie war zur Neueinstellung ihrer Diabetestherapie für zwei Wochen in Bad Mergentheim. Sie hat dort begonnen, das erste Mal freiwillig mit einem Psychologen über ihr Problem zu sprechen und „das war sehr gut, er hat mir sehr geholfen und zu Hause versuche ich jetzt diese Therapie fortzuführen.“, so Jasmin. Und seit dem ich wieder mehr auf meinen Diabetes achte und die Werte stimmen, habe ich wieder Freude am Leben, gehe gerne raus und mache mache viel mit Freunden“
Als Mutter einer Tochter macht mich Jasmins Geschichte extrem betroffen und ich wünsche Jasmin von ganzem Herzen alles Glück dieser Erde, dass sie den richtigen Weg für sich finden wird. Dass sie ihr Leben ohne Essstörung, ohne Rückfalle meistern und genießen kann. Und ich finde es sehr bemerkenswert und äußerst mutig, dass Jasmin mir ihre Geschichte hier so offen und ehrlich erzählt hat. Viele, vielen Dank dafür.
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