
Simons Klassenfahrt-Trilogie: Diesmal aus Sicht der Mutter
Teil 1: Im Vorfeld
„In der vierten Klasse geht`s auf Klassenfahrt“, das war bei mir so und bei meinem Mann und bei fast allen anderen bestimmt auch.
Unser Sohn hat seit seinem sechsten Lebensjahr Typ1 Diabetes. Und nun, wie soll das laufen? Man liest so viel über Probleme von Eltern diabetischer Kinder, wenn es um Schulausflüge und Klassenfahrten geht. Aber unser Sohn und auch wir haben das Glück, dass er eine ausgesprochen tolle Klassenlehrerin hat.
Ich möchte voraus schicken, dass ich selber seit über 20 Jahren Typ1 Diabetiker bin und so vielleicht eine andere Sichtweise auf den Umgang mit dieser Erkrankung aufgrund meiner eigenen Erfahrungen habe. Daher versuche ich von Anfang an, unserem Sohn einen selbstständigen Umgang mit seiner Krankheit zu vermitteln. Auch wollte ich es unserem Sohn ermöglichen, ohne Mama oder Papa die Klassenfahrt mitmachen zu können. Tagesausflüge hat immer Papa mitgemacht, der ist cooler!
So begann unsere Vorbereitung auf die Klassenfahrt schon ein Jahr vorher. Es ging zu einer 4wöchigen Reha nach Westerland auf Sylt. Hier ging es mir besonders um das Schätzen von BE`s, die Hypowahrnehmung und darum, sich selber eine Nadel setzen zu können. So weit, so gut. Tolles Wetter, nette Leute und mehr Selbstständigkeit mit dem Diabetes – geschafft!
Simon hat angefangen, sich selber sein Frühstück für die Schule zu machen, selber abzuwiegen und für Joghurt z.B. die BE`s berechnen. Was man täglich übt – wird zur Gewohnheit. Die jährlichen Schulungen in unserem behandelnden Krankenhaus haben für die Grundlagen auch sehr geholfen.
Aber ohne die Unterstützung der Lehrerin geht es nicht. Daher habe ich das Gespräch mit Simons Lehrerin gesucht. Sie war bereit, Simon ohne ein Elternteil als Begleitung, mit zunehmen. Ich war glücklich und dankbar für diese mutige Entscheidung der Lehrerin.
Ein Stück Normalität!
Deshalb galt es, alles gut vorzubereiten, um es Simon und der Lehrerin leichter zu machen. Für beide gab es eine kleine und übersichtliche BE-Tabelle mit den überlebenswichtigen Lebensmitteln für einen 10jährigen (Nutella, Marmelade, Brötchen, Nudeln, Ketchup,…….). Für Notfälle lag auch noch das Buch „Kalorien mundgerecht“ mit in der praktischen „ZUCKER-SACHEN-Tasche“. Natürlich auch Ersatznadeln, Setzhilfe, Desinfektionsmittel, Schwimmpflaster, Traubenzucker, Schokoriegel, etc. Falls Simon sich durch irgendeinen Zufall die Nadel rausreißen sollte (ist in 3 Jahren ca. 2-mal vorgekommen und dann immer beim Abziehen des Schwimmpflasters nach dem Schwimmtraining), oder die Teststreifen unterwegs ausgehen oder runterfallen oder irgendetwas anderes, man weiß ja nie…….. hatte ich für die Lehrerin eine eigene Bauchtasche gefüllt mit allen Utensilien, die evtl. gebraucht werden konnten.
- Setzhilfe
- Ersatznadeln mit und ohne Schlauch
- Desinfektionsmittel
- Teststreifen
- Traubenzucker
- Schokoriegel
Gerüstet für den diabetischen „Obergau“ – für alle Fälle. Sowas passiert ja immer zu den unmöglichsten Zeiten.
Zwei Wochen vor der Klassenfahrt dann habe ich mich noch einmal mit der Lehrerin zusammengesetzt, um die „Notfallbauchtasche“ mit samt BE-Übersicht abzugeben und noch einmal die letzten Sorgen und Bedenken, wenn möglich, zu minimieren. Da fielen Sätze wie:
- „Simon fühlt seine Unterzuckerungen mittlerweile und weiß sich dann auch selber zu helfen.
- „wenn der Zuckerwert mal zu hoch ist, dann passiert ihm dadurch nichts. Er korrigiert den Wert mit Hilfe des Bolusrechners an der Pumpe und alles wird gut!“
- „wenn er in den 3 Tagen nicht seine Nadel wechselt, dann passiert ihm dadurch auch nichts.“
- „er sollte über 100mg/dl sein, wenn er ins Bett geht.“
- „ich bin in max. 1,5 Stunden in Rüthen, wenn wirklich etwas wäre.“
- „wenn Sie sich unsicher fühlen und es passiert irgendetwas, dass Sie nicht einschätzen können – einfach 112 anrufen! Der Notarzt ist in 7 Minuten da.“
- „es kann Simon nichts passieren! Es ist eine Ausnahmesituation, da muss man nicht alles so genau nehmen – die Hauptsache ist, alle haben Spaß!“
Nach dem Gespräch hatte ich das Gefühl, dass sich Simons Lehrerin einigermaßen sicher fühlt, um nicht die ganze Klassenfahrt über vor ihrem geistigen Auge Simon im diabetischen Koma zu sehen – auch sie sollte doch Spaß an dieser Klassenfahrt haben! Mehr Vorbereitungen konnte ich nicht treffen, denn 10 Tage vor der Klassenfahrt habe ich mich (ganz „verantwortungslos“) ganz allein auf eine große Reise nach Denver in die USA begeben. Den Rest mussten mein Mann und mein Sohn dann alleine bewältigen. Die beiden packten dann noch eine Sporttasche mit allen notwendigen anderen Dingen, fertigten eine Excel-Tabelle, damit auch hoffentlich alle Dinge den Weg nach Hause finden werden und als ich auf meinem Rückweg im Flieger saß, da brachte mein Mann Simon zum Bus.
Teil 2: Unterwegs
Mein Mann und ich hatten immer unsere Handys dabei und zuhause das Telefon in der Hosentasche – auch nachts lag alles griffbereit neben dem Bett. Doch es kam KEIN Hilferuf! Es war seltsam, ohne Simon zuhause – aber ich gönne ihm diese tolle Zeit und den Schub für sein Selbstbewusstsein von Herzen. Beim Abholen vom Bus habe ich mich mit unserem Diabetikerwarnhund VEGAS ganz an den Rand des Getümmels gestellt, was auch gut war. Denn ich hörte von mehreren Elternteilen, dass sie von ihren Kindern wg. einer zu stürmischen Begrüßung peinlich berührt weg geschickt wurden. Simon kam nur kurz zu mir, um mir seinen Rucksack und die Sporttasche vor die Füße zu legen (zu schmeißen) und mir mitzuteilen, dass er mit zu seinem Freund Thore geht. Seinen Bauchgurt mit Messgerät und Notfall-BEs hätte er dabei. Und weg war er.
Muss eine schöne Klassenfahrt gewesen sein!
Die auf den Nägeln brennende Frage nach den Zuckerwerten habe ich mir verkniffen. Sekunden später stand er noch einmal kurz vor mir und meinte trocken: „schön, dass Du heil aus Amerika wieder da bist. Hab Dich vermisst! Tschüss Mama, bis heute Abend“ und schon war er wieder weg.
Teil 3: Fazit
Es ist alles super gut gelaufen!
Alles fasste wie Zahnräder in einander – o.k. wir hatten wirklich Glück, dass kein Sand ins Getriebe geraten ist. Aber auch wenn es so gewesen wäre…..! Simons Zuckerwerte lagen zwischen 110 und 157 mg/dl, also traumhaft. Besser als das eine oder andere Mal zuhause und besser als so manches Mal bei mir selber. Aber auch wenn es nicht so perfekt gelaufen wäre und der eine oder andere 200er oder 300er Wert dazwischen gewesen wäre……!
Egal, es war nur eine Klassenfahrt und nicht sein ganzes Leben.
Simon hat die Fahrt in vollen Zügen genossen, er war immer voller Begeisterung dabei und hat sich durch seinen blöden Zucker von NICHTS, aber auch von GARNICHTS abhalten lassen und das ist gut so! Dank einer fantastischen und mutigen Lehrerin, eines zur Selbstständigkeit erzogenen Kindes und einer gehörigen Portion Glück ….. ist diese Klassenfahrt für alle Beteiligten ein voller Erfolg geworden.
Als Mutter oder Vater eines diabetischen Kindes hat man so allerhand Nöte und Ängste. Aber wenn man diese Ängste einem Lehrer verpasst, der eh schon seine eigenen Sorgen und Ängste in Bezug auf den Diabetes seines Schülers im Gepäck hat, dann macht so mancher Lehrer verständlicherweise „dicht“.
Gut vorbereitet kann man den Diabetes auch mal für ein paar Tage in den Hintergrund schieben…..ich persönlich lebe eh nach dem Motto, dass sich mein eigener Diabetes MEINEM Leben anpassen muss und nicht ich mich mit meinem Leben an den Diabetes.
Aber das ist ein anderes Thema.
Vielen Dank an dieser Stelle – ganz öffentlich und von ganzem Herzen – an Fr. Clüter, Simons Lehrerin von der Grafen-Grundschule in Dortmund-Deusen, für ihren Mut, ihre Unterstützung und Hilfe. (Hier der Bericht von Simons Lehrerin)
Sie geben unserem Sohn die Möglichkeit, ein ganz normaler Junge in der Grundschule zu sein. Hoffentlich haben wir in der neuen Schule wieder so viel Glück.
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Eine Antwort
Danke für deinen mutmachenden Post. Meine zehnjährige Tochter hat erst seit 4 Monaten Diabetes und in der Regel schlägt uns nur Frust entgegen, aber den habne wir hier schon genug. Nach deinem Post habe ich mir jetzt das Ziel gesetzt nicht mehr so schissig zu sein und Malins Selbständigkeit zu fördern
Claudia