
Gastbeitrag von Angela S. Grund-/Hauptschullehrerin und selbst Mutter einer Typ1 kranken Tochter (Diagnose seit August 2012)
Ich bin Grund- und Hauptschullehrerin und wurde im Juli 2012 mit der Situation konfrontiert, dass einer der Schüler in der 4. Klasse, in der ich einige Fächer unterrichtete, die Diagnose Diabetes Typ1 bekam.
Zunächst kreisten Gedanken in meinem Kopf: „Ausgerechnet Tim*, der Klassenbeste – Er ist doch gar nicht dick und macht viel Sport – Muss ich da jetzt auch was machen – Wie geht es wohl der Familie – Was ist Diabetes eigentlich so richtig?“
Der Klassenbeste, zuverlässigste und freundlichste Schüler hatte nun ein Handicap und keiner wusste so richtig was es bedeutete oder wie wir als Lehrkräfte damit umgehen sollten. Es war mir aber ein Bedürfnis zu wissen, was mit Tim los war und wie ich helfen konnte. Denn das ist meine Aufgabe als Lehrerin und Pädagogin: Allen Schülern möglichst gerecht zu werden und sie individuell zu fördern oder zu unterstützen. Es ist sicher nicht immer möglich, aber zumindest muss ich mir Gedanken darüber machen. Tim brauchte sonst nie Hilfe, schaffte alles selbständig und zuverlässig, aber jetzt brauchte er in einer Sache Unterstützung.
Die Klassenlehrerin erklärte mir, dass Tim sich spritzen muss und ich ihn dringend vor der großen Pause daran erinnern sollte, dass er sich messen müsse, bis er sich an die neue Situation gewöhnt und alles sich ritualisiert hatte. Sollte er mir verhaltensmäßig ungewöhnlich still vorkommen, sollte ich auch einfach nach dem Rechten fragen und ihn eventuell zum Messen ermutigen, den Rest könne er alleine. Das war also alles was ich tun sollte? Es war wohl Glück im Unglück, dass Tim sehr gewissenhaft und zuverlässig war. Es war für mich überhaupt kein Problem, diese Dinge zu erfüllen.
Schüler die Hilfe brauchen, sollen diese auch bekommen
Tatsache ist, dass es so viele unterschiedliche Kinder in einer Klasse gibt: Diejenigen, die fachliche oder auch pädagogische Hilfe brauchen, andere brauchen einfachere oder schwierigere Arbeitsblätter, da sie über- oder unterfordert sind, andere haben psychische Störungen, die wiederum einen bestimmten Umgang mit ihnen erfordern. Warum also sollte ich nicht auch dieses Bedürfnis von Tim selbstverständlich berücksichtigen, das meist weniger Zeitaufwand erforderte, als ich ihn für andere Kinder aufwenden musste!
Es gibt viele Kollegen und Kolleginnen, die große Berührungsängste haben. Ich sehe es allerdings so: Unser Beruf hat sich sehr gewandelt. Auch Menschen in der freien Wirtschaft müssen sich den Gegebenheiten anpassen, sonst verlieren sie den Anschluss und den Job. Viele Lehrer ruhen sich auf ihrem Beamtenstatus aus und haben nicht mehr das Kind im Fokus. Das ist schlichtweg nicht duldbar.
Mit Aufklärung und einfachsten Schulungen, kann jeder helfen und unterstützen. Wenn es aus bestimmten Gründen unüberwindbare Hemmungen gibt, darf das ja in Ordnung sein, aber dennoch können Lehrer die Familien extrem gut unterstützen, auch wenn sie nicht direkt spritzen oder bolen. Allein ein Blick darauf, ob das Kind soweit alles in Ordnung macht oder ob sich das Verhalten ändert oder ob es ans Messen gedacht hat, hilft ungemein und gibt den Eltern das Gefühl, dass sie sich verlassen können. Und das kann und muss jeder Lehrer in meinen Augen leisten, denn für andere Kinder mit anderen Problemen tut er es auch!
4 Wochen später war ich mit meinem eigenen Kind, damals 3 Jahre alt im Krankenhaus, weil Diabetes Typ 1 festgestellt wurde und ich begann mich zu fragen: „Hätte ich mehr für Tim tun können?“
Jeder kann selbst betroffen sein. Als Lehrer arbeiten wir nicht mit Materialien, sondern mit Menschen, mit Kindern. Das war uns bewusst, als wir diesen beruflichen Weg einschlugen.
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* Name geändert
- Projekt Dia Engel - 29/10/2022
- Gestärkt in die Zukunft starten - 05/07/2022
- Unser Weg ins Nordsee-Internat in St. Peter Ording - 18/03/2022
5 Antworten
Als Lehrerin hatte ich ebenfalls Kinder mit Diabetes in meinen Klassen. Das war meist kein Problem. Probleme gab es in den Momenten, wo Eltern mehr verlangten, als eine Erinnerung ans Messen.
In einem Fall sollte ich das Kind begleiten zur Klinik, da es sich um die Diabetesversorgung selbst kümmern musste, aber noch nicht allein Busfahren konnte. Diese Eltern waren allerdings auch der Meinung, ich könnte mich glücklich schätzen, dass sie ihr Kind zur Schule schickten, schließlich hätten sie nur Sozialhilfe.
in einem anderen Fall wurde verlangt, dass ich das Frühstück abwiege und Krümel einsammle, da diese zurückgerechnet werden müssten und das Kind während der Pause ständig selbst betreue, damit es das Frühstück nicht austauscht.
Es sind nicht nur Eltern von Diabetikerkinder, die solche Forderungen – meist sind es keine Wünsche, sondern es wird direkt gedroht, dass man sich beschwere, wenn diese Aufgaben nicht übernommen werden – stellen, Eltern von Kindern mit ADHS erwarten, dass man Ritalin verabreicht, EB-Kinder müssen dauerbeaufsichtigt werden, das nächste Kind benötigt Hustensaft und Augentropfen.
Auf einer Klassenfahrt habe ich mich – mit Blick auf ein Diabeteskind, ein ADHS-Kind und ein Kind mit EB- bereiterklärt, wichtige Medikamente die von einem Arzt verschrieben und entsprechend dokumentiert waren zu verabreichen. Das Ergebnis war ein Umzugskarton voll mit Hustensäften, Nasensprays und Salben, die die Kinder alle nicht selbst nehmen sollten, sondern von mir verabreicht bekommen sollten. Von 32 Kindern brauchten 30 irgendein Medikament, viele dieser Medikamente tauchten erst am Bus auf. Seither lehne ich erstmal alle Forderungen von Eltern ab. Natürlich kümmere ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten um die Kinder, aber das würde ich Eltern gegenüber niemals erwähnen. Absprachen mit Eltern chronisch kranker Kinder treffe ich nur noch im Vier-Augen-Gespräch.
Ich habe selbst ein Kind mit Diabetes und auch wir hatten wenig kooperative Erzieher und Lehrer. Ich wünsche mir, dass sich hier etwas ändert, aber ich kann jeden Kollegen verstehen, der sagt, ich tue alles, was mir möglich ist, erkläre mich allerdings nicht bereit, die Notfallspritze zu setzen oder andere Medikamente zu verabreichen oder bei der Verabreichung zu assistieren.
Vielen Dank an die Verfasserin! Schön wäre, wenn sich mehr Pädagogen auf den eigentlichen Sinn ihre Berufes besinnen würden. Es geht nicht nur um Wissensvermittlung. Gerade heute, wo viel Kinder irgendwelche Probleme haben, sollten Lehrer flexibel sein und Interesse zeigen. Mir ist auch klar, dass auch Lehrer nicht alles können. Das müssen sie auch nicht. Aber gerade, wenn es um lebensbedrohliche Situationen geht, dire durchaus auftreten können, sollte sich jeder- nicht nur Lehrer- der im engerem kontakt mit dem Kind steht, informieren. Das kann nicht so schwer sein, rettet aber unter Umständen ein Leben.Die Kinder haben dann schon ein Handycap, da sollten sie alle Unterstützung durch Erwachsene erhalten und nicht noch stigmatisiert werden. Leider ist die Realität eine andere. Kann ich nicht nachvollziehen. Leben doch einige nach dem Motto: Was geht mich fremdes Elend an… Schade…
Hallo Joanna De, vielen Dank für dein Kommentar! Wir hoffen inständig, dass unsere Beiträge von vielen gelesen werden und auch mal die ein oder andere Lehrerin oder Erzieherin dabei ist. Es gibt sie nämlich! Die engagierten Lehrer/innen und Erzieher/innen – nur zu wenig! An die soll unser DANKE gehen und die andere sollen Zweifel außen vor lassen und keine Angst vor der Erkrankung haben. Liebe Grüße Heike von den 4 vom Blog
So ist es, Joanna. Am meisten traf mich die Tatsache, dass kurze Zeit später mein eigenes Kind betroffen war. Somit muss immer die Überlegung sein: was für eine Umgangsweise würde ich mir wünschen, wenn es mein eigenes Kind beträfe!
Danke fürs Lesen!
So ging es mir auch Angela. Ich wusste zwar schon vieles als Physiotherapeutin,und wir hatten bei beiden Kindern schon ein Kind mit Typ 1 in der Klasse, aber trotzdem ist mein Fokus ein ganz anderer, seit unsere Jüngste Diabetes hat. Auch im Umgang mit anderen Erkrankungen.
Liebe Grüße vom Deich
Claudia