
Dieses Thema wurde bei uns in der Selbsthilfegruppe der Sweet Kids am 10.02.2014 behandelt. Herr Bartus besuchte uns hierzu zu einem informativen Gesprächskreis!
Da dieses Thema sehr sensibel und vorallem auch sehr schwere Folgen haben kann – habe ich diesen Bericht mit Hilfe von Herrn Dipl.Psych. Béla Bartus, Leiter der Kinderpsychologie und Fachpsychologe Diabetes (DDG), Kinder- und Jugendspsychotherpeut und Psychodiabetologie, geschrieben. Ein herzliches Dankeschön für die Unterstützung an dieser Stelle!
Folgende Ess-Störungen gibt es beim Typ-1 Diabetes:
- Subklinische Ess-Störung (unterschwellige Ess-Störung, die oft zum unregelmäßigem Essverhalten führen )
- Insulin-Purging (zu wenig Insulin spritzen oder ganz weglassen)
- EDNOS Eating disorders not otherwise specified (Mischform aus Anorexie, Bulimie auch in Kombination mit Adipositas, auch hier ist das Essverhalten sehr uregelmäßig )
- Bulimie (Ess-Brech-Sucht)
- Binge Eating (Fress-Gelage – absoluter Kontrollverlust)
- Anorexie (Magersucht)
Die wohl tückischsten Ess-Störungen bei Typ1 Diabetes ist die Bulimie (Ess-Brech-Sucht) wegen den entstehenden Hypos und das Insulin-Purging (zu wenig Insulin spritzen – dadurch Gefahr von Ketoazidosen und „gewollter“ Gewichtsverlust).
Als Typ1 Diabetiker kann man nicht so unbeschwert essen wie gesunde – es gibt mehr Regeln zu beachten und die Gedanken kreisen oftmals den ganzen Tag um das Essen.
- es werden mehrere Mahlzeiten über den Tag verteilt – damit der Blutzucker stabil bleibt
- schlechtes Gewissen nach „Naschen“ oder wenn ohne Insulingabe gegessen wurde
- BZ-Messung und Insulingabe als wiederkehrendes „Ritual“ vor dem Essen
- Das Essen wird auf KE-Menge geschätzt
- immer darauf aufpassen, dass auch Essen verfügbar ist (Hypos)
- lernen auch das Hungerfühl manchmal (einmal) aufzuschieben
- erhöhter Blutzucker durch Bewegung kompensieren
- es wird ein gezügeltes / kontrolliertes Essen erlernt.
Das alles macht es für Kinder und Jugendliche im Alltag nicht gerade einfach ihr normales Essverhalten beizubehalten (ein normales Essverhalten zu entwickeln). Auch wir als Mütter schauen immer auf die Uhr (ist das Insulin schon durch, Blutzuckerkontrolle, jetzt sollte vielleicht was gegessen werden). Auch wir stellen uns oft die Frage: „Trainieren wir unseren Kindern dadurch ein falsches Essverhalten an und bringen sie praktisch direkt in die Ess-Störung?“ Auf diese Frage, antwortete mir Herr Bartus ganz klar mit „NEIN“ – das hat mich schon sehr beruhigt. Es gibt von Haus aus auch gewisse „Zwänge und Regeln“ nach (an) denen gegessen wird. Die Mensa hat nur von 12-13:30 Uhr offen – also muss in dieser Zeit gegessen werden – die große Pause in der Schule ist vorgegeben, das Abendessen steht immer um 18:30 Uhr auf dem Tisch – das sind gesunde Rituale innerhalb der Familie und hat nichts mit dem Zusteuern in eine Ess-Störung zu tun.
Mann muss sich auch einmal die Situation einen Schulkindes vor Augen führen. Es ist Mittagszeit – die Kinder haben sich verabredet zum „Döner-Essen“ – Mittagschule fängt eine Stunde später an. Das Diabetes-kranke Kind sollte eigentlich noch den Blutzuckermessen – natürlich vor dem Döner – nach Möglichkeit auch noch bevor losgelaufen wird. Die anderen ziehen sich ihre Jacken an und laufen schon mal vor. Unser Kind würde zurückbleiben – es würde den Anschluss an die Gruppe verlieren – also auf geht’s – messe ich eben später! Alle bestellen sich Döner und es wird geschwatzt und getratscht und sie haben Spaß. Unser Kind müsste sich danach spritzen oder bolen. Die anderen nicht – sie laufen schon wieder in Richtung Schule…. „dann bole ich eben in der Schule etwas später“ – und dann ist es passiert – der Döner wurde nicht gebolt, nicht gespritzt. Das Kind fühlt sich sowieso schon schlecht – der hohe Blutzucker macht ihm zu schaffen und zuhause gibt’s die Moralpredigt von Mama oder Papa.
Herr Bartus erzählte uns, auf die Frage die er einem Jugendlichen gestellt hat: „Warum bolst du denn dein Essen nicht“ – kam die Antwort: “ WEIL ICH MICH DANN GESÜNDER FÜHLE “ – das treibt mir die Tränen in die Augen. Unsere Kinder wollen gerne gesund sein, sind es aber nicht. Sie sollen verantwortungsbewusst mit ihrer Erkrankung umgehen – und das tun sie die meiste Zeit. Als Mutter hohe Werte auszuhalten und in keine Moralpredigt zu verfallen stelle ich mir sehr schwierig vor! Noch schwieriger stelle ich mir aber vor, dass unsere Kinder so gefestigt sind, dass sie immer hinstehen und sagen: „Hey ich muss noch messen – wartet mal auf mich“ oder immer von den anderen zu erwarten „Hey, er muss noch messen – lasst uns mal warten“.
Egal wie, wir müssen versuchen unsere Kinder durch diese Zeit zu helfen und Ausrutscher nicht überbewerten und dennoch alles so im Blick zu behalten, dass wir eine Ess-Störung oder auch eine Ablehnung dem Diabetes gegenüber rechtzeitig erkennen. Sich als gesund zu fühlen muss nicht über das Essen laufen. Sich bewusst zu machen, dass „ich in die Schule gehe wie die anderen“ „Sport treiben wie die Mitschüler“ „bei coolen Veranstaltungen wie ein Konzert dabei bin“ das schafft das Gefühl, „ich bin doch dabei“. Dann kann auch das Bolen leichter fallen wenn es nicht der alleinige Maßstab für das Zugehörigkeitsgefühl ist.
Auf was sollte man bei Jugendlichen in der Pubertät besonders achten:
- Blutzuckerschwankungen („brittle Diabetes“) und hohe HbA1c-Werte
- Ketoazidosen aufgrund von unregelmäßigen willentlich ausgelassenen oder reduzierten Insulindosen
- Behandlungsmitarbeit gering – Verweigerung beim Diabetes-Management, Lebensqualität reduziert, häufig Streit und Spannungen,
- Gefahr weiterer psychischer Belastungen
- längerfristig Gefahr der Retinopathie (Erkrankung der Netzhaut – Rydall, 1997) und mikrovaskulärer Komplikationen (Schäden der kleinen Gefäße, Peveler 2005) und alle anderen Folgeerkrankungen.
Was kann ich tun, damit es erst gar nicht so weit kommt?
Präventive Maßnahmen
- Vermeidung von starren Ernährungsempfehlungen
- Essprobleme und Ess-Störungen auch in Schulungen thematisieren – Auffrischungskurse in der Dia-Ambulanz, nachfragen des Diabetologen
- Gewichtskontrolle nicht wertend gestalten (z.B. „Du hast 500 gr. zugenommen oder abgenommen – wiegen soll nicht kommentiert werden)
- eine schlechte Diabeteseinstellung von der Ess-Verhaltensstörung abkoppeln
- liegt ein Verdacht auf eine Ess-Störung vor, ansprechen ohne es zu dramatisieren
Wie kann ich mein Kind unterstützen und eine gedankliche Umbewertung des Essverhaltens beeinflussen:
kontrolliertes Essen WIRD ZU geplantem Essen
Behandlungsaspekt WIRD ZU Genussaspekt
Essen mit Regeln assoziiert WIRD ZU Essen ohne „zu viel gedanklichem“ (bewussten) Ballast
Was kann ich tun, wenn ich eine Ess-Störung bei meinem Kind feststelle oder vermute?
- vertrauliches Gespräch anbieten
- Diabetestherapie überdenken – evtl. umstellen
- Spezifische Schulungen bei den Diabetes-Beratungen
- Hilfe außerhalb der Klinik „Mädchengesundheitsladen“, Beratungsstellung für Ess-Störungen (für die ELTERN!), Erziehungsberatungen
- Kinder- Jugendpsychotherpeuten/Psychiater
- wenn ein deutliches Störungsbild und Gewichtsverlust erkennbar ist, zügige Behandlung in psychosomatischer Einrichtung anbahnen.
Schön zu hören ist, dass statistisch gesehen die Ess-Störungen bei Jugendlichen mit Typ1 Diabetes rückläufig sind!
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